Die Flucht – 21. Januar 1945
Man stelle sich vor, da kommt ein Uniformierter mit strammem „Heil-Hitler-Gruß“ gegen Abend in die Wohnung und ordnet an, dass Frauen und Kinder sich gegen Mitternacht am Feuerwehrdepot einzufinden hätten und Männer die Stadt nicht verlassen dürften, tun sie es doch und werden geschnappt, droht standrechtliche Erschießung. Es war eine sehr kalte Mondnacht, als unser Gepäck auf einen Schlitten geladen wurde und mein Opa mich und meine Oma zum besagten Treffpunkt begleitete. Ich hatte an meinem Schulranzen die über alles geliebten Schlittschuhe befestigt, Malzeug und eine Puppe durften natürlich auch nicht fehlen. Dann ging es innerhalb einer Gruppe vom Depot zum Bahnhof in Gleiwitz. Alles war verdunkelt und beim Besteigen des Zuges trat meine Oma zwischen Zug und Bahnsteigkante und verletzte sich dabei am Schienbein. Sie verabschiedete sich von ihrem Mann und ich von meinem Opa. Wir fuhren mit einem Lazarettzug voller verwundeter Soldaten ins Ungewisse. Am Abend zuvor hatte meine Oma für sie wichtige Fotografien aus Fotoalben herausgetrennt, um sie mitzunehmen. Diese Bilder besitze ich heute noch und sie haben für mich eine große Bedeutung.
Als das Wenige, was wir mitnehmen durften und konnten, gepackt war, gingen wir noch einmal zu den Nachbarn ins Haus und verabschiedeten uns. Beim Gehen sah meine Oma noch ein letztes Mal durch die Tür und sagte: „Das sehen wir nicht mehr wieder“. Sie sollte Recht behalten.
Die Flucht mit dem Zug
Ich war im Januar 1945 knapp neun Jahre alt und kann mich an alles sehr gut erinnern. Bei der Abfahrt in Gleiwitz sah und hörte man am Horizont Flakfeuer. Die Rote Armee war bereits ganz nah herangerückt. Wir fuhren dann mehrere Tage mit dem Zug. Oft standen wir lange auf freier Strecke. Wir wurden ins damalige Sudetenland (Nordböhmen) ins heutige Usti nad Labem verbracht, wo wir nach der Ankunft zunächst mit vielen anderen Menschen in einer mit Stroh ausgelegten Turnhalle nächtigen mussten. Nach ein paar Tagen fasste meine Oma den Entschluss, zu ihrer Tochter nach Hannover aufzubrechen. Uns erwarteten überfüllte Züge mit verzweifelten und gleichsam hoffnungsvollen Menschen, die während der Fahrt auf Trittbrettern und Zugdächern standen. Wir hatten Glück und konnten noch einen Platz ergattern. Zurückbleibende, die es nicht mehr geschafft hatten, schlugen Scheiben ein und die kalte Winterluft drang ins Zuginnere. Um möglichst jeden Raum auszunutzen, lag ich im Gepäcknetz. Da ein Durchdringen zur Toilette unmöglich war, hielt mich meine Oma zu diesem Zweck durch herunter gelassene Zugfenster. Unvergesslich blieb der Umstieg in Dresden. Der Bahnhof war mit Flüchtlingen übersät und ich hatte immer panische Angst, meine Oma zu verlieren. Wir schrieben den 12. Februar 1945, ein Tag vor der Bombardierung der Stadt durch alliierte Truppenverbände. Danach lag Dresden in Schutt und Asche. Und so hörte ich später meine Oma sagen: „Wären wir einen Tag später dort angekommen, wären wir nicht mehr am Leben“.
Bombardierung in Hannover
Und dann Hannover. Es gab auch dort tägliche Bombardierungen durch angloamerikanische Kampfverbände. Es gab Voralarm und Hauptalarm und meine Cousine und ich wurden mit einem Kinderwagen voller Habseligkeiten in den Bunker vorgeschickt, um einen Platz zu bekommen. Die Stimme aus dem Volksempfänger: „Achtung, Achtung, eine Luftlagemeldung. Feindliche Kampfverbände überm Steinhuder Meer nähern sich Hannover“, ist bis heute im Gedächtnis eingebrannt. Manchmal sahen wir die sogenannten „Christbäume“ am Himmel. Das sah einerseits sehr schön aus, war aber auch sehr gefährlich. Einmal schafften wir es nicht in den Bunker und mussten im Luftschutzkeller in Todesangst einen schweren Bombenangriff überstehen. Ringsum Einschläge, das Haus schwankte in seinen Grundfesten. Wir schrien, umarmten uns und beteten. Nach dem Angriff erblickten wir draußen das Ausmaß der Zerstörung. Brennende Ruinen und Bombentrichter überall. Aber wie Kinder nun einmal sind, wurden Trümmer und Krater schon am nächsten Tag zum Spielen genutzt.
Es ist für mich aus heutiger Sicht erstaunlich, wie all diese Erlebnisse verdrängt und „weggeputzt“ wurden. Die Worte Trauma oder Psychologie kannten wir nicht. Heute wird alles wissenschaftlich beurteilt und Menschen dadurch zu sehr sensibilisiert.
Wir lebten dann ein Jahr in Hannover. Ich hatte trotz der Kriegswirren meine Erstkommunion. Oma nähte aus Fallschirmseide bei Kerzenlicht mein Kommunionskleid.
Kriegstraumata
Ein furchtbares Erlebnis während der Flucht bewegt mich noch heute zutiefst. Es geschah auf der Zugfahrt aus den Sudeten, als wir an einem Bahnhof hielten.
Auf einem Nebengleis stand ein Zug mit offenen Waggons. Darin stehend, nur in eine Decke gehüllt, blaugefrorene und ausgemergelte Menschen. Manche hatten ein kleines Töpfchen an einer Schnur, um damit Schnee als Flüssigkeit zu erlangen. Leute aus unserem Zug warfen Brotstücke hinüber. Ein Menschenknäuel riss sich darum. Das Schlimmste aber war, dass Soldaten auf diese Menschen schossen. Ich sah einen Leichenberg. Es ist für mich unbegreiflich, was Menschen anderen Menschen Schlimmes antun können. Bis heute.
Ankunft in Bukow
Mein Opa kam nach fast einem Jahr aus Gleiwitz nach. Im März 1946 kamen wir dann in Buckow an. Es war Großvaters Wille und meine Oma folgte. Wir hätten auch in Hannover bleiben können. Erwähnt sollte noch werden, dass ich meine Großeltern mit Mutti und Papa anredete, indes mein Vater für mich Onkel Willi war. Nachdem wir in Buckow alle wieder zusammen waren, wurde aus Mutti und Papa, Oma und Opa und aus Onkel Willi, Papa. Das stellte sich für mich als regelrechte Identitätskrise dar. Meine Mutter habe ich nicht gekannt. Ich habe sie später durch den Suchdienst ausfindig gemacht, aber sie lehnte jeden Kontakt ab.
Mir ist es eine Bedürfnis, dies alles niederschreiben zu können, auch und gerade um begreiflich zu machen, wie glücklich die folgenden Generationen leben dürfen.
Inzwischen habe ich drei Mal meine alte Heimat besucht, habe vieles wieder erkannt und gefunden. Das ist ein sehr wehmütiges und beklemmendes Gefühl, das wieder zu sehen, was uns einst Heimat war und uns so viel bedeutete.
Übrigens, meine Schlittschuhe und die Puppe musste ich als hinderlichen Ballast irgendwann entsorgen, sprich wegwerfen.
Gretel Blankenburg, im April 2016
Matthias Wagner